Jedes Jahr zum „Internationalen Tag der Arbeit“ am 1. Mai folgen zigtausende Menschen dem Aufruf der Gewerkschaften auf die Straßen – und das ist gut so! Sie demonstrieren für verschiedene, völlig berechtigte Forderungen wie bessere Arbeitsbedingungen, Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern oder höhere Löhne, um prekäre Lebensverhältnisse zu beenden.
Wenn allerdings von den Gewerkschaften die soziale Frage gestellt wird, werden queere Perspektiven nicht bedacht. Gewerkschaftsmitglieder*innen sind in ihrer großen Masse männlich, weiß, heterosexuell und cis[1] – und das ist die prägende Perspektive gewerkschaftlicher Arbeit. Soziale Ungleichheit betrifft Frauen, People of Colour, homo- und bisexuelle Menschen sowie Transpersonen aber immer untrennbar verwoben mit Sexismus, Rassismus sowie Homo- und Transfeindlichkeit. Werden unsere Erfahrungen nicht gehört, bleiben Dimensionen sozialer Ungleichheit unsichtbar: der drohenden Jobverlust beim Outing, Diskriminierung bei der Arbeitssuche oder dass ein linearer Lebenslauf für Menschen in Selbstfindungsprozessen jenseits der gesellschaftlichen Norm unmöglich ist. Dies alles sorgt für Brüche in der Biografie, die die Betroffenen vor Herausforderungen stellt, die von gewerkschaftlicher Seite bisher keine Beachtung finden. Aktiven Gewerkschafter*innen, die darauf z.B. in queeren/LGBTIQ-Arbeitskreisen hinweisen und versuchen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, möchten wir unsere Solidarität aussprechen! Wir brauchen mehr davon – auf regionaler, Landes- und Bundesebene!
Arbeitskämpfe sind immer gleichzeitig Umverteilungskämpfe als auch Kämpfe um Selbstbestimmung. Wem gehört unsere Arbeit? Unsere Zeit? Und wer entscheidet darüber? Damit wir gemeinsam handlungsfähig sind und uns (zurück)holen können, was uns gehört, müssen wir all unsere Kämpfe anerkennen – vor allem Kämpfe von Frauen*, Queers und People of Colour, nicht nur von weißen, heterosexuellen cis-Männern. Kapitalistische Ausbeutung verläuft entlang rassistischer, sexistischer, homo- und transfeindlicher Spaltungen. Wir können Kapitalismus nur ernsthaft bekämpfen, wenn wir Klassen- und Antidiskriminierungspolitik nicht künstlich voneinander trennen und gegeneinander ausspielen.
Doch ein kleiner Blick in die Geschichte der Gewerkschaften und der LGBTQ*IA-Bewegung lohnt. So spielten für den Ausbruch der Stonewall-Unruhen, die sich 2019 zum 50. Mal jähren, nicht nur Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit eine Rolle, sondern auch die ökonomische Lage der Aktivist*innen. Auch darf nicht vergessen werden, dass es Lesben und Schwule waren, die in den 80er-Jahren im Rahmen von LGSM die englischen Gewerkschaften in den Bergarbeiterstreiks unterstützten. Gehen wir endlich weitere Schritte auf dem Weg zu einer queeren Klassenpolitik!
Wir fordern von den Gewerkschaften, dass der Lohnunterschied zwischen zwischen homo- und heterosexuellen Menschen mehr Aufmerksamkeit bekommt und bekämpft wird. Bei Männern liegt der im Augenblick zwischen 2,14 und 2,64€/Stunde. Im Falle von Trans- und Inter-Personen ist dieses Feld noch gar nicht erforscht. Auch in der amtlichen Sozialberichterstattung spielen solche Probleme keine Rolle![2]
Ebenfalls komplett unbeachtet bleiben dann die aus der Diskriminierung folgenden Rentenausfälle und Altersarmut. Dies gilt insbesondere für Menschen, die wegen einer Verurteilung wegen §175 jahrelang keine Arbeit gefunden haben und deswegen heute in Armut leben.[3]
Gewerkschaften sind dafür da, Prekarisierung zu benennen und diese zu bekämpfen. Die Arbeit der Gewerkschaften hört allerdings bisher immer an den Betriebstoren auf. Dabei müsste man, um den ganzen Menschen gegen kapitalistische Ausbeutung zu verteidigen, auch den ganzen Menschen gewerkschaftlich organisieren, nicht nur seine*ihre Arbeitskraft. Sonstige mögliche Lebensphasen (Orientierungs-, Bildungs-, Erziehungs- oder Arbeitslosigkeitsphasen) werden von den Gewerkschaften nicht beachtet. Auch soziale Orte außerhalb des Betriebes wie Stadtteilzentren und Beratungsstellen scheinen für gewerkschaftliche Arbeit keine Rolle zu spielen.
Deswegen rufen auch wir dazu auf, am 1. Mai die Straßen zu fluten. Zeigen wir, dass es uns auch gibt, auch wenn wir totgeschwiegen werden. Zeigen wir, dass dies auch unser Kampf ist, auch wenn niemand in Sonntagsreden über unsere Probleme spricht. Lasst uns laut sein, lasst uns bunt sein, und zeigen wir ganz deutlich: Unter den Proleten gibt es nicht nur Heten!
[1] Cis sein bedeutet, sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu identifizieren. Das Gegenteil von cis ist trans.
[2] DIW Wochenbericht Nr. 37 2017 <https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.563767.de/17-35-3.pdf>